(von Andreas Hunzinger; Sportmagazin „kicker” Nr. 32, 2021)
Am Freitagabend um kurz vor 22.30 Uhr gab es bei Willi Orban Aufwallungen zu beobachten, die man bei ihm selten sieht. Erst sprintete der Innenverteidiger von RB Leipzig völlig euphorisiert über den ganzen Platz, um seinem Kollegen Yussuf Poulsen zu gratulieren, weil der im Duell mit der TSG Hoffenheim in der sechsten Minute der Nachspielzeit den vermeintlichen Siegtreffer geköpft hatte. Kurz darauf sah man Orban mit Schiedsrichter Manuel Gräfe im erregten Diskurs, weil dieser das Tor wegen eines Handspiels Poulsens zu Recht aberkannt, just zuvor die Partie beendet und das 0:0 amtlich gemacht hatte.
Wenige Minuten später war Orban dann wieder der, der er normalerweise ist. Im Fernsehinterview sprach der 28-Jährige zwar davon, dass es „unheimlich bitter“ sei, dass das Tor zurückgepfiffen wurde. Aber wie er es sagte, mit dem von ihm bekannten leicht staatsmännisch anmutenden Unterton, bewies, dass da einer seine Gefühle wieder im Griff hatte.
In den 95 Minuten vor dem dramatischen Schlussakkord hatte Orban derweil das getan, was er meistens tut: seriös verteidigen, ohne Schnörkel, aber effektiv. Wo im Zusammenhang mit den Leipziger Innenverteidigern meist die Rede vom potenziellen Weltklasse- und künftigen Bayern-Spieler Dayot Upamecano (22), dessen nicht viel weniger talentierten Kollegen Ibra-hima Konaté (21) oder dem ebenfalls sehr begabten Nordi Mukiele (23) die Rede ist, geht Orban zwischendurch ein bisschen unter. Weil er weniger spektakulär spielt und weil man eben mit 28 nicht mehr die Schlagzeilen füllt, wenn es um vermeintlich gloriose Zukunftsperspektiven geht.
Bei RB wissen sie jedoch, was sie an Orban haben. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass Klub und Spieler vor zehn Tagen die Verlängerung des Vertrages bis 2025 verkündeten. Wenn Orban diesen erfüllt, wird er zehn Jahre bei RB gewesen und zu einer Identifikationsfigur des noch jungen Vereins geworden sein. Orban, der 2015 vom Zweitligisten 1. FC Kaiserslautern zum Zweitligisten RB Leipzig kam und mit den Sachsen den Weg zum Bundesliga-Top-Klub sowie Champions-League-Starter beschritt, sagt: „Das war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.“ Weil er selbst an der Aufgabe wuchs. „Der Weg in Leipzig, eine Entwicklung mitgehen zu dürfen, hat ihm gutgetan“, betont Marco Kurz (51), der Orban als Trainer in Kaiserslautern im August 2011 gegen Bayern München zum Bundesliga-Debüt verhalf. Langfristig denken, die Entwicklung im Blick haben, hart daran arbeiten, um zum Ziel zu kommen: Das passt zu diesem Charakter, ebenso, dass der Verteidiger zu schätzen weiß, was er hat, und so nicht zum Wandervogel neigt.
Die unprätentiöse Art, die Zurückhaltung, mit der er durchs Leben geht, aber auch seine Geradlinigkeit kennzeichnen den Profi und Menschen Orban. Mancher mag den fehlenden Glamour langweilig finden, ebenso den Umstand, dass die Leipziger Nummer 4 auf protzige Statussymbole verzichtet. Orban definiert sich über seine Haltung zu seinem Beruf, den er lebt wie wenige. Wenn die Kollegen an freien Tagen die Seele baumeln lassen, sieht man den Verteidiger im RBLeistungszentrum am Cottaweg, weil er Krafttraining absolviert. Oder, so Julian Nagelsmann, „man sieht ihn auch mal mit einem Rotkohlkopf durch die Stadt laufen, weil er den daheim nur mit Öl isst, weil es gesund ist.“
Bei aller Akribie sagen sie über Orban indes, dass er kein verkniffen ehrgeiziger Egozentriker sei, sondern stets das Gesamtgefüge und das Wohl seiner Kollegen im Blick habe. „Willi ist ein außergewöhnlicher Topspieler“, sagt Adam Szalai (33), Stürmer von Mainz 05 und Orbans Kollege im Nationalteam Ungarns, „was aber noch wichtiger ist: Er ist ein unfassbar guter Mensch. Willi ist auf dem Platz und daneben unheimlich professionell und als Person zutiefst ehrlich und geradling. Solche Leute findet man heute eher selten.“ Willi, der Aufrechte.
Aufrecht und geradeaus war Orban auch schon als Jugendlicher. „Willi ist kein Lautsprecher und kein Schauspieler“, sagt Gunther Metz (53), einst Verteidiger in Kaiserslautern und beim Karlsruher SC sowie Orbans Trainer in der U 19 des FCK, „aber Willi war auch fordernd, weil er wissen wollte, wo er besser werden kann. Er hat nicht zu allem Ja und Amen gesagt.“ Die Bedächtigkeit, mit der er auftritt, führt dazu, dass man ihn bisweilen unterschätzt. Denn schon in der Jugend war er „eine Führungsfigur“, sagt auch Philipp Klement (28). Der heutige Mittelfeldspieler des VfB Stuttgart war Orbans Kollege in der FCK-Jugend. Und ergänzt: „Willi war kein Lautsprecher, aber hat seine natürliche Autorität sinnvoll und in den richtigen Momenten eingesetzt.“ Auch Marco Kurz erinnert sich an den Jungprofi, der „sehr ruhig, sehr besonnen, sehr bewusst war in dem, was er macht“, aber auch klare Kante zeigen konnte. Nagelsmann hat noch eine andere Seite ausgemacht: Orban sei auch ein Typ, „der schon Humor hat und auch mal einen Spruch draufhat“.
Eine Vokabel fällt derweil oft, wenn man mit Wegbegleitern über den Abwehrspieler spricht: zuverlässig. „Mit Willi konnte man gut Vereinbarungen treffen, er hat sich dann daran gehalten“, blickt Thorsten Wagner (52) zurück. Der Lehrer unterrichtete Orban am Heinrich-Heine-Gymnasium in Kaiserslautern in der Oberstufe im Leistungskurs Englisch. Natürlich genoss der angehende Profi Orban auch manches Sonderrecht und verpasste wegen der Verpflichtungen als Fußballer die ein oder andere Unterrichtsstunde, „aber er war ein kluger Kopf und hat verstanden, dass er in den Präsenzzeiten Gas geben muss“, erinnert sich auch Markus Berndt (45), Fußballkoordinator an der vom DFB zertifizierten Eliteschule des Fußballs und Orbans Lehrer im Leistungskurs Sport, „Willi hatte ein gutes Arbeitsethos, ohne streberhaft zu sein“. Und Orban brachte übrigens auch in anderen Disziplinen Leistung. Berndt sagt: „Im Volleyball und in der Leichtathletik war Willi noch sehr gut. In der Abi-Prüfung ist er die 200 Meter in einer Zeit gelaufen, die auf der Wertetabelle für Schulen gar nicht mehr draufstand.“ Im Sport-Abitur sei Orban dann „im Volleyball auch im Einserbereich gewesen“, so Berndt, „Schwimmen und Gerätturnen waren okay“.
Aus dem Schüler Orban ist ein gestandener Bundesligaprofi geworden. Einer, der nach einer mehrmonatigen Pause wegen eines Knorpelschadens im Knie (November 2019 bis Mai 2020) heute bei RB wieder wichtiger denn je ist. Ob Dreier- oder Viererkette, ob als rechter, linker oder zentraler Innenverteidiger: Orban verleiht der besten Defensive der Liga Halt. Und mit einem kicker-Schnitt von 2,89 in der Liga ist er der notenbeste RB-Profi in dieser Saison. „Er hat in der Luft und am Boden unheimliche Qualitäten“, sagt Nagelsmann über Orbans Fähigkeiten im Zweikampf, „er hat ein gutes Gespür für Timing, wann ich Zugriff kriege und wann ich fallen muss.“ So kann der 1,86 Meter große und 87 Kilo schwere Defensivakteur gegnerische Stürmer ausbremsen oder brenzlige Situationen bereinigen, ohne dabei mit spektakulärer Verteidigungs-Akrobatik aufwarten zu müssen. Der als Vilmos Tamas Orban in Kaiserslautern geborene ungarische Nationalspieler (bislang 20 Länderspiele) versteht sich aber nicht nur auf das Kerngeschäft eines Abwehrspielers. „Eine Stärke ist seine Spieleröffnung, da hat er einen großen Schritt gemacht, seit ich gekommen bin. Er ist sehr mutig, hat sehr gute Lösungen“, lobt Nagelsmann.
In der Rekordspieler-Liste von RB Leipzig, die Yussuf Poulsen mit nun 289 Pflichtspieleinsätzen anführt, findet sich Orban mit 191 mittlerweile an siebter Stelle wieder. Bis der bei der Verlängerung vereinbarte Anschlussvertrag für die Zeit nach Orbans Karriere frühestens ab 2025 greift, wird Willi, der Aufrechte, in diesem Ranking sicher noch weiter nach vorne rücken.
ANDREAS HUNZINGER